Innehalten – Schauen – Handeln

von Mirjam Luthe

Wenn wir jeden Tag „dankbar leben“ praktizieren würden, wäre das genug, um unser Leben und die Welt um uns herum positiv zu beeinflussen. Das ist das Beste an einer grundlegenden Übung, auf die wir immer wieder zurückkommen können. Und nur, weil etwas einfach ist, bedeutet das nicht, dass es einfältige oder unbedeutende Ergebnisse liefert.
Diese Übung kann überall, zu jeder Zeit und so oft, wie Sie möchten, praktiziert werden. Sie können sie aber auch in einer etwas ritualisierteren Weise jeden Tag zur gleichen Zeit üben.

Als Grundlage für weitere Übungen werden wir eine einfache Drei-Schritte-Übung zur Dankbarkeit vorstellen. Diese Technik – mit Dank an Bruder David Steindl-Rast, von dem wir sie uns ausgeliehen haben – heißt einfach „Innehalten – Schauen – Handeln“ (Stop – Look – Go). Es funktioniert wunderbar, wenn man sie für sich allein praktiziert, und man kann das täglich tun. Man kann diese Technik auch als Basis für speziellere Meditationen verwenden, was wir in einigen Kapiteln auch tun werden.
Die „Innehalten – Schauen – Handeln“-Technik lässt sich in den folgenden drei Schritten zusammenfassen:

INNEHALTEN – präsent, wach, bewusst, empfänglich werden
SCHAUEN – bemerken, beobachten, betrachten, eine direkte Erfahrung machen
HANDELN – anerkennen, etwas in die Hand nehmen, etwas mit den Möglichkeiten und dem Bewusstsein tun, die durch Dankbarkeit entstehen.

Bevor Sie die erste Übung praktizieren, lesen Sie bitte zunächst den folgenden Auszug aus Bruder Davids Essay: „Awake, Aware, Alert“, in dem er die Grundlagen der „Innehalten – Schauen – Handeln“-Technik beschreibt.

„Zuerst einmal können wir nicht damit beginnen, dankbar zu sein, es sei denn, wir wachen auf. Aufwachen zu was? Zu Überraschungen! Solange uns nichts überrascht, gehen wir wie betäubt durchs Leben. Wir brauchen Übung, um zu einer Überraschung aufzuwachen. Ich schlage vor, eine einfache Frage als eine Art Wecker zu verwenden: „Ist das nicht überraschend?“ „Ja, natürlich!“, ist die richtige Antwort, egal, wann und wo und unter welchen Umständen diese Frage gestellt wird. Ist es nicht letztendlich überraschend, dass da überhaupt etwas ist anstatt nichts? Fragen Sie sich selbst mindestens zweimal am Tag: „Ist das nicht überraschend?“, und Sie werden schon bald wacher durch die überraschende Welt gehen, in der wir leben. Überraschung kann uns ein Anstoß sein, genug, um uns aufzuwecken und uns daran zu hindern, alles für selbstverständlich zu halten.
Es hilft mir, meine eigene Übung der Dankbarkeit zu verbessern, wenn ich diese drei einfachen Schritte anwende, die ich eigentlich schon als kleiner Junge gelernt habe, bevor ich eine Straße überquerte: „INNEHALTEN, SCHAUEN, HANDELN.

Vor dem Schlafengehen schaue ich auf den Tag zurück und frage mich: Habe ich INNEGEHALTEN und mir selbst erlaubt, überrascht zu sein? Oder bin ich wie betäubt weitergegangen? War ich zu beschäftigt, um zu einer Überraschung aufzuwachen?

Und als ich innehielt, habe ich da nach den Möglichkeiten GESCHAUT, die dieser Augenblick bereithielt? Oder habe ich zugelassen, dass die Umstände mich vom Geschenk in diesem Geschenk abgelenkt haben? (Dies scheint häufig der Fall zu sein, wenn die Geschenkverpackungen nicht ansprechend sind.) Meistens besteht die Möglichkeit, diesen Augenblick zu genießen.

Und schließlich: War ich wachsam genug, danach zu HANDELN, um die Möglichkeit, die sich mir bot, voll und ganz auszunutzen?
Ich muss zugeben, dass es Zeiten gibt, in denen ich abends innehalte, auf meinen Tag zurückschaue und mit Bedauern feststelle, wie viel ich verpasst habe. An diesen Tagen ohne Pause war ich weniger dankbar, ich war auch nicht so lebendig, irgendwie taub. Andere Tage sind genauso hektisch, aber ich erinnere mich währenddessen immer wieder daran, INNEZUHALTEN. An diesen Tagen erreiche ich sogar mehr, da das Innehalten die Routine bricht.
Doch wenn ich nicht auch SCHAUE, wird das Innehalten alleine meinen Tag nicht zu einem wirklich glücklichen Tag machen. Was macht es schon für einen Unterschied, wenn ich zwar statt im Schnellzug in einem Bummelzug sitze, aber dann die Landschaft, die am Fenster vorbeizieht, nicht zur Kenntnis nehme? An manchen Tagen stelle ich bei meinem abendlichen Rückblick fest, dass ich innegehalten habe und geschaut habe, jedoch nicht mit Aufmerksamkeit. Erst gestern fand ich eine riesige Motte auf dem Bürgersteig. Ich habe lange genug innegehalten, um sie an einen sicheren Ort auf den Rasen zu setzen, nur einen halben Meter entfernt. Aber ich bin nicht in die Hocke gegangen, um Zeit mit diesem wunderbaren Geschöpf zu verbringen. In der Nacht konnte ich mich nur schwach an diese schillernden Augen auf den gräulich-braunen Flügeln erinnern. Durch mein Versäumnis, lange genug bei diesem Überraschungsgeschenk zu verweilen, es genau zu betrachten und seine Schönheit dankbar zu genießen, wurde mein Tag weniger gut.
Mein einfaches Rezept für einen freudigen Tag ist dies: INNEHALTEN und aufwachen; SCHAUEN und sich bewusst sein, was man sieht; dann HANDELN mit aller Aufmerksamkeit, die man aufbringen kann, für die Möglichkeiten, die der Moment bietet. Wenn ich am Abend zurückblicke, an einem Tag, an dem ich diese drei Schritte immer wieder durchlaufen habe, ist es so, als wuürde ich auf einen Apfelgarten voller Früchte schauen.“

Bruder David Steindl-Rast

Und jetzt probieren Sie diese Übung selbst aus:


Übung: INNEHALTEN – SCHAUEN – HANDELN

INNEHALTEN
Halten Sie bei dem, was Sie gerade tun, inne, und richten Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf, still zu sein oder ruhiger zu werden. Sie können dabei auch die Augen schließen, wenn Sie möchten. Achten Sie auf Ihren Atem; folgen Sie bewusst einem kompletten Zyklus aus Einatmen und Ausatmen. Richten Sie Ihr Bewusstsein auf das Geschenk des Augenblicks und lassen Sie sich in dieses Gefühl sinken.

SCHAUEN
Schauen Sie, was das Leben Ihnen jetzt, in diesem Moment, bietet. Beachten Sie die Einladung, sich dankbar zu fühlen für das, was Sie bereits in Ihrem Leben haben. Verstärken Sie dieses Gefühl und lassen Sie es in sich wachsen. Bewahren Sie dann diese Betrachtungen in irgendeiner Weise auf. Die Forschung und eigene Erfahrungen sagen, dass das Aufschreiben von dankbaren Gedanken sehr hilfreich sein kann.

HANDELN
Schreiben Sie mindestens drei Dinge auf, für die Sie dankbar sind. Das muss nichts Großartiges oder Kompliziertes sein. Einige der bedeutsamsten Dinge, die man wertschätzen kann, sind die, die wir üblicherweise als selbstverständlich nehmen. Zum Beispiel: geliebte Menschen, unsere Sinne, einen Platz zum Leben, die Fähigkeit zu lernen und zu wachsen, ein Haustier, Essen, einen Freund, ein Stück Natur.

Gehen Sie jetzt einen Schritt weiter und denken Sie an jedes dieser Dinge als Geschenk anstatt als Selbstverständlichkeit. Wir können alles in unserem Leben – vor allem Routinen und die alltäglichen Bereiche unseres Lebens – für uns wertvoller machen, indem wir sie mit der gleichen Art von Dankbarkeit annehmen, mit der wir ein unerwartetes Geschenk annehmen würden.
Oben haben Sie drei Dinge notiert, für die Sie in Ihrem Leben dankbar sind. Versuchen Sie jetzt, sie als Geschenk zu betrachten, das heißt: Nehmen Sie die drei Dinge, für die Sie oben Ihre Dankbarkeit ausgedrückt haben, und vervollständigen Sie die drei Sätze, beginnend mit:

„Ich bin dankbar für das Geschenk …“

Wenn es möglich ist, sprechen Sie diese Sätze laut aus. Achten Sie darauf, wie sich Ihre Gefühle den Dingen gegenüber verändern, für die Sie dankbar sind.
Zum Schluss lassen Sie Ihre Gefühle in dankbare Empfindungen für die Menschen in Ihrer Umgebung übergehen. Denken Sie an einen Menschen, dem Sie heute für etwas Gewöhnliches oder Außergewöhnliches danken.
Riskieren Sie etwas und erkennen Sie Güte an. Ehren Sie jemanden, der hilfsbereit ist. Loben Sie Großzügigkeit. Preisen Sie Mut. Würdigen Sie Echtheit. Starten Sie eine „Welle der Dankbarkeit“.
Was auch immer Sie auswählen: Achten Sie darauf, was dies für Sie bedeutet und verändert hat. Kehren Sie dann zu diesem Arbeitsbuch zurück und schreiben Sie auf, was Sie erlebt haben, als Sie jemandem gedankt haben.

Wem haben Sie heute gedankt?

Was war das Ergebnis?

Herzlichen Glückwunsch! Sie haben gerade die Praxis der Dankbarkeit geübt!

Quelle: Vier-Türme-Verlag (2018), genehmigte Auszüge aus „Dankbar leben – Ein inspirierendes Praxisbuch. Basierend auf den Grundsätzen von David Steindl-Rast“, von Gary Fiedel und Karie Jacobsen.
Die Übung ist adaptiert von „Awake, Aware, Alert” von Bruder David Steindl-Rast, http://gratefulness.org/Resource/Awake-Aware-and-Alert/ und von “A Basic Daily Gratefulness Practice” von Gratefulness.org http://www.gratefulness.org/resource/basic-daily-gratefulness-
practice/
, auf Deutsch hier.

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